Allein der Begriff des Lernens ist vielschichtig. Wem drängt sich nicht der berüchtigte „Nürnberger Trichter“ assoziativ auf? Der den Lernenden zum Objekt herabstuft. Denn in dieser Attribution von Lernen ist die Menge der eingetrichterten Informationen das entscheidende Moment; wie der Kopf unter dem Trichter diese verarbeitet, ob Wissen, gar Klugheit daraus entsteht, ist irrelevant.
Teil 3 unserer Lernreise durch einen Bewusstseinsprozess hin zu einer authentisch-anders Organisation, beleuchtet das Bewusstseinsphänomen des Lernens, individuell und organisational. Was steckt im Begriff des selbstbestimmten Lernens? Wie verwandt sind Lernen und Ökonomie? Was bedeutet Lernende Organisation?

 

Was bedeutet Lernen mit Bezug auf das „Selbst“?

Angesichts der Datenflut, die uns heutigen Tages überschwemmt, ist die Gefahr des bloßen Einsickern Lassens ungefilterter Informationen und der Verwechslung dieses, von Passivität geprägten, Geschehens mit Lernen akut. Wenn Lernen aber mehr ist das bloße Rezipieren fremden Wissens, dann steuern wir geradewegs auf die Frage der Selbstbestimmung zu. Lernen als selbstbestimmten Prozess zu begreifen – das wiederum bedarf eines Bewusstseins eben genau dessen: Seiner selbst.

 

Was ist das Selbst? Miniaturausflug in eine Begriffsgenese

„Meist haben wir mehrere Seelen in unserer Brust“ sagt der emeritierte Professor für Psychologie Friedemann Schulz-von Thun, er bezeichnet diese Menge an „Ichs“ als Inneres Team, in welchem, ähnlich einem realen Team im Unternehmen, es sehr unterschiedliche, auch gegenläufige Denk- und Handlungsweisen geben kann. Jeder Mensch, vertieft der Emeritus der medizinischen Psychologie, Ernst Pöppel, den Gedanken, versuche daher, „eine innere Balance herzustellen“. Im menschlichen Bewusstsein ist es das „Selbst“, welches das Gleichgewicht zwischen unseren Persönlichkeitsanteilen schafft.  Wobei der Begriff des „Selbst“ tief in der Kulturhistorie von Philosophie und Psychologie wurzelt. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842 – 1910) unterschied das erkennende Selbst („self as knower“, I, „pure Ego“) vom erkannten Selbst („self as know“, „me“, empirical ego“)

 

Selbstbestimmt lernen ist eine große Herausforderung – keineswegs nur für Kinder und Jugendliche; auch Erwachsene sind oft überfordert: Welche Information ist wertvoll? Welche verarbeite ich als Bestandteil wachsenden Wissens? Eines Wissens, das im Kontext meiner Lebensherausforderungen einen Mehrwert bietet. Womit wir beim sog. lebenslangen Lernen angelangt sind. Der Philosoph und Mathematiker Marie Jean Antoine Nicolaus Caritat, Marquis de Condorcet (1743 – 1794) gilt als Entdecker dieses Prinzips, erläutert der brand eins Kolumnist Wolf Lotter in seinem Buch „Zusammenhänge“: Mit lebenslangem Lernen gleichgesetzt ist die Fähigkeit zum eigenen, persönlichen Urteil, dazu, „seinen Kontext stets fortzuentwickeln“. Will heißen, unentwegt zu beobachten und zu überprüfen, was um mich herum geschieht, sich dessen gewiss zu sein, dass alles, was ein Mensch, ein Unternehmen tut, Auswirkungen auf Geschehnisse anderen Orts hat. Der sog. Schmetterlingseffekt bzw. systemisches Denken und Verstehen.

Auf zu selbstbestimmter Bildung: Das Lernen lernen

Selbstbestimmt Lernen geht damit weit über das hinaus, was ich lerne, es geht darum, wie ich lerne, also das Lernen lerne und es als Bereicherung begreife, als Ingredienz meiner Selbstbestimmtheit, als einen Zu-Gewinn, als oft verschlungenen Pfad zur Bildung. Der Buchautor Wolf Lotter wirft in seinem aktuellen Buch „Zusammenhänge – wie wir lernen die Welt wieder zu verstehen“ ein überraschendes Schlaglicht auf das Kulturgut Bildung. Nicht ausschließlich als „Kind“ der Aufklärung und des Humanismus, sondern auch als Grundpfeiler eines anspruchsvollen ökonomischen Verständnisses definiert Lotter Bildung: Zur Beherrschung sich unaufhörlich entwickelnder Technik brauchte es mit Einsetzen der Industrialisierung den Mitarbeiter, der lesen, schreiben, rechnen konnte, kurz, der eine gewisse Bildung mitbrachte, um die Maschinen handhaben zu können. Wieviel mehr gilt dies heute in Zeiten rasant digitalisierter Prozesse, welcher Fähigkeiten des mit Wissen unterfütterten Überblicks bedarf es erst heute!!: In unserem Buch „Anders wirtschaften“ zitieren mein Mitautor Jens Hollmann und ich aus dem Buch „Arbeitsfrei“ mit einem Plädoyer für eine neue alte Form der derzeit stark standardisierten (Hochschul-)Bildung. Es gelte, „eine Intelligenz zu schulen, die genug Mathematik kann, um die Welt der Computer zu verstehen, und Soziologie oder Literaturwissenschaft, um dieser Welt begründet standzuhalten“. Kurz: eine humanistisch fundierte Bildung, eine Renaissance des Studium Generale im neuen zeittauglichen Gewande.

 

 

Authentisch anders-Phänomene: eine Bewusstseinsreise

  1. Am Anfang war die Innovation, das Neue in die Welt bringen; Innovation, mehr noch kulturelle Innovation bedarf der Führung, Teil 1 der Reihe.
  2. Welche Führung adäquat ist, wie deutungsfähig Führen generell ist und wie Hierarchien im authentisch anders-Führen konnotiert werden, vertieft die Autorin in Teil 2 der Blogreihe.
  3. Neue Formen des Miteinanders, darunter ein reflektiertes Führungs- und Hierarchieverständnis: es sind alles Lernprozesse – bis hin zur lernenden Organisation, Teil 3.
  4. Lernen ist mehr als rein vernunftgesteuertes Mehren von Wissen, Lernen umfasst auch das Verstehen unserer Empfindungen. Die Klugheit unserer Gefühle betrachtet die Autorin in Teil 4 der Reihe.
  5. Ob Ratio gefragt ist im Veränderungsgeschehen oder eher das Gefühl: Entscheidend ist immer der Austausch, die Kommunikation; Menschen begegnen sich wahrhaftig im Dialog, Teil 5.
  6. An jedem Punkt der Bewusstseinsreise zeigen sie sich: die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die Merkmal unserer Existenz sind; der Dialektik unseres Seins. So kann Lernen Lust als auch Leid bedeuten; Führen stellt sich als eine komplexe Gemengelage von Anforderungen dar, die in sich widersprüchlich sein können und die Innovation ist immer gekoppelt an die Frage nach Erhaltenswertem: Teil 6 und zugleich Abschluss dieser Blogreihe.  

 

 

Auf unseren selbstbestimmten Umgang mit technologischen Errungenschaften bezogen, die uns in ihrem Funktionieren zunehmend als Blackbox erscheinen, heißt das: Es ist der Mensch, der denkt und lenkt. Der Algorithmus löst indes die Aufgaben, in welchen er dem menschlichen Gehirn bereits uneinholbar überlegen ist: Für den Menschen nicht fassbare Datenmengen zu sondieren, zu kombinieren und Wahrscheinlichkeiten zu extrapolieren. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr leistet das digitale Rechenzentrum; hier zu supervidieren, zu steuern, gegebenenfalls korrigierend einzugreifen – das ist gewiss ein Merkmal der Wissensökonomie. Und die betrifft keinesfalls nur Akademiker, IT-Professionals und Führungsetagen; es betrifft jeden Menschen, der mit Automatisierung und Digitalisierung konfrontiert ist und mit ihr arbeitet.

Leben, Lernen, Arbeiten – Die Lernende Organisation

Was bedeuten diese Entwicklungen im organisationalen Kontext? Für den Wirtschaftskontext hat der Politikwissenschaftler Peter Senge (*1947) den Begriff der „lernenden Organisation“ geprägt. Und adressiert damit die Organisation als Ausdruck, als das „Wir“ der darin wirkenden Menschen. „Die Fähigkeit, schneller zu lernen als die Mitbewerber, ist vielleicht der einzige nachhaltige Wettbewerbsvorteil“, ergänzt und pointiert der niederländische Wirtschaftstheoretikers Arie de Geus (*1930), ein Mitstreiter Peter Senges. Er versteht darunter die Fähigkeit einer Organisation, auf innere und äußere Reize adäquat zu reagieren und Verhalten anzupassen. Die Evolution ist der Lehrmeister: Nur die Arten überleben, die auf sich wandelnde Bedingungen flexibel reagieren

 

Drei unaufhörliche Lernprozesse im Unternehmen

Der belgische Unternehmer Frederic Laloux hat in seinem Buch „Reinventing Organizations“ drei hervorstechende Merkmale der lernenden Organisation herausgearbeitet. Alle charakterisieren einen unaufhörlichen Lernprozess:

  • Mitarbeiterautonomie bedeutet Verantwortungsbereiche, die der Mitarbeiter selbst mit entwickelt hat. In seinen kompetenzbezogenen Grenzen besitzt der Mitarbeiter Handlungsautonomie. Dieses Ausmaß an Verantwortung ist zugleich eine große Herausforderung. Weitergehend ist vom Mitarbeiter die Reife gefordert, zu erkennen, wann eine erforderliche Entscheidung andere Verantwortungsbereiche berührt; es geht darum, Kontexte, Zusammenhänge zu erfassen, es geht um Kontextkompetenz. Erkennt der Mitarbeiter den Zusammenhang und das Abstimmungserfordernis, muss er andere Kompetenzträger einbeziehen und eine Entscheidungsrunde einberufen.
  • Gesamtpersönlichkeit: Wahre Kreativität gedeiht in Freiheit. Ein Mitarbeiter, der bereits an der Pforte des Unternehmens große Teile seiner Persönlichkeit abstreift, weil sie vermeintlich bei der Arbeit unerwünscht sind, wird sein Ideenpotenzial nicht ausschöpfen. Eine lernende, lebendige Organisation hat den Anspruch, den Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit anzunehmen und zu würdigen.
  • Sinn: Auf die Frage, welchen Sinn ein Unternehmen hat, lautet die häufigste Antwort: Gewinn zu machen. Das ist ein Ziel, ein wichtiges, sonst ist das Unternehmen nicht marktfähig. Sinn ist umfassender. Die Frage nach dem Sinn (heute als „Purpose“ gehandelt) kann jedes Unternehmen nur individuell beantworten – auf Basis seiner Historie, seiner Branche, seiner Vision und seines Geschäftsmodells.

Lernsignale über die Unternehmensgrenzen hinaus

Die lernende Organisation fordert viel vom Menschen. Sie fordert von jedem Einzelnen nicht nur die Arbeit im System, sondern in hohem Maß die Arbeit am System. Die lernende Organisation kennzeichnet einen Prozess unaufhörlicher Überprüfung von Strukturen, Prozessen und der eigenen Rolle in diesem Unternehmen. Sie adressiert einen Menschentypus, der Freude am lebenslangen Lernen, an Gestaltung und Eigenverantwortung hat. Sie birgt zugleich die Herausforderung, auch Mitarbeiter zu integrieren, die mit klassisch-funktionalen Hierarchien ein Empfinden der Sicherheit, der Ordnung und der klar umrissenen Position verbinden.

 

Es gilt, „eine Intelligenz zu schulen, die genug Mathematik kann, um die Welt der Computer zu verstehen, und Soziologie oder Literaturwissenschaft, um dieser Welt begründet standzuhalten“.

 

Lernen, mit Widersprüchen und Vieldeutigkeit umzugehen

Hier zeigt sich die nächsthöhere Dimension der lernenden Organisation: Das gewahr Werden von Spannungsfeldern, deren bewusstes Aushalten. In klassischen Pyramidenorganisationen gern „unter den Teppich gekehrt“, werden Spannungsfelder in der lernenden Organisation sichtbar. Zeichnet sich beispielsweise das Erfordernis einer Neujustierung ab, so gilt im gleichen Maße das Erfordernis der Verlässlichkeit von Strukturen, Prozessen, Ansprechpartnern. Es geht auf einer Metaebene immer um Authentizität und den unserem Sein innewohnenden unaufhörlichen Wandel, das anders Sein von einem Moment zum anderen (s. hierzu Folge 6 der Reihe). Die lernende Organisation spiegelt einen gesellschaftlichen Lernprozess: Lust am eigenständigen Erforschen unbekannter Sachverhalte, Entdeckerfreude, den Mut, sich Widersprüchen zu stellen. Es ist eine Einstellung, eine innere Haltung zu einer verantwortungsvollen Freiheit. Davon bleiben Menschen auch im privaten Umfeld nicht unberührt.

Lernen als Bewusstseins- und Reifeprozess von Kindheit an

Und damit der Abschlussschwenk und Anknüpfungspunkt zum Beginn dieser Überlegungen: Lernen als Ausdruck des Selbst. Verantwortungsvoll Freiräume zu nutzen, sie derart nutzen zu können, ist eine Frage von Bildung, auch von Herzensbildung. Hier wird idealerweise das Fundament bereits in Kindheit und frühester Jugend angelegt. Menschen, die sehr früh bereits eine Freiheit des Denkens gelernt und internalisiert haben, werden auch als Erwachsene sich selbstverständlicher, angstfreier im beruflich-gesellschaftlichen Umfeld bewegen als jemand, der solch‘ eine Form der Bildung nie kennengelernt hat – oder sich die innere Freiheit erst mühsam erkämpfen musste. Die so gern zitierte Mitarbeiterautonomie ist geistig als auch seelisch ein tiefer Lern- und Bewusstseinsprozess ist. Idealerweise beginnt dieser bereits in frühester Kindheit.

 

Hinweis:
Mit dem brand eins Mitgründer und Kolumnisten Wolf Lotter durfte ich jüngst, Anfang Oktober 2020, ein sehr tiefgehendes Gespräch zu seinem Buch „Zusammenhänge- wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“ führen, ein Gespräch, in dem das Lernen als Prozess der Selbstbestimmung und der Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, kurz Kontextkompetenz, einen großen Stellenwert hat: Hier unser Podcast

Weitere interessante Stimmen zur Thematik „Lernen

Warum beim Lernen auch das Vergessen wichtig ist

Studien zu Gehirn und Lernen

Beitragsbild: Bild von MorningbirdPhoto auf Pixabay 

Bildbearbeitung Collage sowie Graphik im Text: Michael Wolf, Mitgründer authentisch-anders sowie Inhaber des Büros für Aisthetik und Kommunikation

 

Die Blogreihe

Teil 1: Innovation

Teil 2: Führen

Teil 4: Emotionen

Teil 5: Dialog

Teil 6: Ambivalenz

 

 

Katharina Daniels: Kommunikationsberaterin und Publizistin

Über die Autorin
Die Autorin ist Inhaberin von „Daniels Kommunikation“ (Sprache macht den Menschen aus) und Mitgründerin der Verbundinitiative „authentisch-anders: Für eine wache Kultur in Unternehmen und Gesellschaft„. Unter dem Leitgedanken der kulturellen Innovation begleiten die authentisch-anders Mentoren, mit jeweils individueller Expertise und Perspektive, Unternehmen als Sparringspartner, Inspirations- und Feedbackgeber. Damit innovationsbereite Unternehmen mit einer zukunftsweisenden Kultur Impulse in die Gesellschaft senden. Mit einer Kultur, die Mitarbeiterautonomie, Selbst-Verantwortung und Sinnhaftigkeit verbindet. In der CSR, New Work und agiles Management mehr als Worthülsen sind. So setzen Sie als Unternehmen Akzente authentisch anders – bei Ihren Stakeholdern und in Ihr gesellschaftliches Umfeld hinein! 

.