Erster Reflex angesichts einer Krise? Bewältigen, auflösen, so rasch wie möglich. Um dem unangenehmen, ja bedrohlichem Zustand zu entfliehen. Damit die Dinge sich wieder so ordnen, wie wir es gern möchten, damit wieder Sicherheit einkehrt. Von solchen Begehrlichkeiten aber lassen sich Krisen nicht anfechten. Was tun? Im Dreiteiler zu Krisenphänomen schauen wir uns in diesem Teil 2 den „Innehalt“ an, den Raum des inneren Abstands, des Überdenkens, der Ruhephase zwischen der Aktion des Gegenübers respektive dem Reiz, der etwa durch ein Geschehen erzeugt wird und unserer oft reflexhaften Reaktion.

Im Innehalt liegt die „Macht unserer Wahl“

Den Neurologen und Psychiater Viktor Frankl (1905 – 1997) hat der innere Abstand, durch Beobachtung und Einordnung seiner Beobachtungen, vier Konzentrationslager auch mental überleben lassen – den Zweifeln an jeglichem Sinn zum Trotz. Gleich nach Kriegsende veröffentlichte Frankl seine Erfahrungen als Buch: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Sein Credo: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die Macht unserer Wahl. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit“.

Der Innehalt vs. „just-in-time“

Ist dem Menschen schon vom Grunde her das Überwinden reflexhaften Verhaltens eine Herausforderung, so lebt unsere Gegenwart regelrecht ein Dogma des Raschseins, des Unmittelbaren, des „bloß keine Zeitvergeudens“. Schauen wir in die Wirtschaft, aufs „just-in-time“ Prinzip: benötigte Ressourcen, Bauteile etwa, zur Weiterverarbeitung im geringstmöglichen Zeitraum heranzuschaffen. Warum? Um finanziell aufwendige Zwischenlagerungen zu vermeiden und damit Lieferwege hocheffizient zu halten. Nun aber droht das bis vor kurzem als „Goldstandard der Wirtschaft“ geltende Prinzip zu erodieren. Die Klimakrise etwa zeigt die Anfälligkeit von Transportwegen auf, Bahngleise verbiegen sich unter der Hitze, Flusswege trocknen aus und die Transportschiffe laufen auf Grund.

Im Automobilsektor (1) zwingt die sog. Halbleiterkrise die Hersteller zum Umdenken. Halbleiter als notwendige Bestandteile von Chips für E-Autos bestehen aus Rohstoffen, deren Förderung der steigenden Nachfrage nicht mehr hinterherkommt: Kupfer, Lithium, Seltene Erden sind für die gesamte E-Mobilität, die digitale Kommunikation, den Bau von Windenergie-Stromtrassen unentbehrlich. Nun aber drohen Engpässe, auch wegen einer starken Konzentration der Abnehmer auf bestimmte Lieferländer, die, wie China etwa, zudem als Autokratien diametral zu unserer Gesellschaftsordnung stehen – ein klassisches Dilemma zwischen ökonomischen Interessen und politisch-ethischen Erwägungen (s. Teil 1 dieser Reihe).

Wenn Kurzfristigkeit langfristig Schlimmeres gebiert

Für Unternehmen gilt es, mittelfristig neue Optionen zu überdenken, etwa Produkte dort vorzuhalten, wo sie auch bearbeitet werden. Weitergehend noch steht eine Transformation des Gesellschaftssystems an, hier beispielsweise Kurskorrekturen des Steuersystems (2), um durch Übergewinnbesteuerung erneuerbare Energien zu finanzieren. Ethisch-sozial kommen wir um ein grundsätzliches Überdenken unseres oft haltlosen Konsums nicht herum, um Abhängigkeiten, auch von Rohstoffen, zu reduzieren.

Wie es nicht geht, wie kurzfristige vermeintliche (!) Lösungsoptionen den Schaden mittel- und langfristig noch größer machen, zeigt die Überlegung aus dem Bundesverkehrsministerium, hinsichtlich des Rheins als Wassertransportweg. „Angesichts der Tiefstände vieler wichtiger Gewässerwege, darunter vor allem auch des Rheins, hat sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing erneut für eine Beschleunigung der Rheinvertiefung ausgesprochen“ schreibt ZEIT Online vom 29. August 2022. Fürs kurzfristig wieder mögliche Befahren des Wasserwegs ist das Ausfräsen kritischer Transportstellen im Flussbett zwar geeignet. Angesichts bereits jetzt immer trockener werdender Sommer aber bedeutet die „Lösung“, dass dem Boden noch mehr Wasser entzogen wird, eine Verschlimmerung der Gesamtsituation. Es gilt (im Zusammenspiel von Ökologie und Ökonomie), „so viel Wasser wie möglich in der Landschaft zu halten, bevor Flüsse letztendlich ins Meer abfließen“, kommentiert Ruth Ciesinger im Tagessspiegel vom 20.8.2022. Bei einer künstlichen Vertiefung des Flussbetts „trocknen Auen aus, Lebensräume für Fische, Amphibien und Pflanzen gehen verloren, und die Dürre im Boden breitet sich noch ungebremster aus“.

Wenn Bewährtes nicht mehr tauglich ist

Dies sind nur einige wenige Szenarien, die die Erosion des auf unbedingte Raschheit und Effizienz ausgerichteten Denkens verdeutlichen. Eines Denkens, das mit Lösungsansätzen der Vergangenheit auf das Meistern gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen, Probleme, Krisen setzt. Den geistigen Wahn, der darin schlummert, hat bereits Albert Einstein in dem legendären Spruch gebrandmarkt: „Insanity ist doing the same thing over and over again and expecting different results“.

Gegenspieler Heuristik und Innehalt

Die „Faustregel“, die in Managementkreisen gern zitierte Heuristik, „so haben wir das immer gemacht, also wird es auch jetzt richtig sein“, ist grundsätzlich ein sinnvolles Instrument, um rasch zu einer Entscheidung zu gelangen, dann zur Umsetzung. Sie passt, um es mit der Cynefin-Matrix zu verdeutlichen, auf einfache (good practice), vielleicht durch erneute Evaluierung und Verifikation (best practice) auch noch auf komplizierte Sachverhalte. Sie versagt bei komplexen, durch Ambivalenzen und Dilemmata charakterisierten Gemengelagen. Heuristik ist ein Instrument, das mit dem Prinzip „Zeit als Effizienzgröße“ korreliert: Wie kann ich meine Zeit möglichst zielorientiert nutzen? Welchen messbaren Nutzen ziehe ich aus der investierten Zeit?

Homo Expentans: Innehalt gleich Er-Wartung

Was in diesem Zeit- ja Weltverständnis aus dem Blick gerät, ist der Wert von Zeit als Reflexionsraum, als Raum des Innehalts. Unseren Gedanken und Überlegungen den Raum zu geben, damit sie sich entfalten können; Einsichten zu gewinnen, die sich uns erst dann zeigen, wenn wir nicht getrieben sind, mehr noch, wenn wir uns nicht treiben lassen. Wenn wir bereit sind zum Warten auf Erkenntnis, die auch für längerfristiges, (und, um den überstrapazierten Begriff hier dennoch zu nutzen), nachhaltiges Bewältigen aktueller Krisen den Boden bereitet.

Nicht umsonst ist in der portugiesischen Sprache das Tätigkeitswort für „warten“ und „hoffen“ identisch: esperar (3) „Warten-können“, schreibt Tagesspiegel-Autorin Dr. Kerstin Decker im Essay „Der Innehalt“ (4) vom 7.2.2021, „ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle“. In diesem Verständnis des Wartens geht es nicht um das external erzwungene, das Ungeduld erregende, bisweilen auch das dumpfe Warten, im Wartezimmer des Arztes, in der Warteschlange vorm Tickethäuschen einer gutbesuchten Veranstaltung etc.; hier geht es um ein selbst- und damit sinnerfülltes Warten, ein Warten, das seinen Blick auf etwas richtet. Etwa auf die multiplen Faktoren einer komplexen Krisensituation, in der Er-Wartung erkennender Ideen zur Situationsbewältigung. Der „homo expectans“, das etwas erwartende Individuum, sei „das einzige Tier, das ein Bewusstsein der begrenzten Ressource Zeit hat“, so der Soziologe Rainer Paris. (5). 

Im Innehalt das Werk vollenden

So gesehen und verstanden, ist die Zeit, die uns in unserer Lebensspanne zugestanden ist, eben so viel mehr als ein Zwischenstadium, das es im schlimmsten Sinne „totzuschlagen“ gilt, oder – im zielfokussierten Effizienzdenken – es zu „sparen“, zur messbaren Größe zu reduzieren: in welchem Zeitraum habe ich wieviel geschafft? „Die ganze Moderne ist ein Großprojekt zur Abschaffung von unnützer Zeit, also der Wartezeit“, so der Journalist und Schriftsteller Timo Reuter im Essay „Der Innehalt“. Vulgo: Zeit ist Geld. Letzteres – man kann es fast ein Glaubensbekenntnis nennen – eine Ingredienz etwa der Fünf-Jahrespläne: Was muss ich alles tun, tun, tun, um das bestimmte Ziel zu erreichen? Mich folglich dem Diktat der unentwegten Tätigkeit unterwerfen. Zum Zeitpunkt meiner Pläne nicht wissend, nicht wissen könnend, welche Entwicklungen das ursprünglich gesetzte Ziel unterlaufen, ja seines Sinnes berauben können.

Diesem unaufhörlichen Laufrad zu entkommen, kann nur im (vermeintlichen) Untätigsein gelingen, im Rückzug und in der Besinnung auf Zeit als Geschenk: für Kontemplation, für überraschende Ideen, die im Laufrad keine Zeit zum Entstehen und Wachsen haben. Hier entsteht wahre Entwicklung, hier zeigt sich der Innehalt als „kulturbildende Kraft“ (6), die unserem Miteinander Würde verleiht, die „das Werk erst vollendet“ (7).

Beitragsbild: Bild von Lars Nissen auf Pixabay

(1): Kerkhoff Guido, Sureth-Sloane Caren, „Die Widerstandskraft stärken / Krisen werden für Unternehmen zum Normalfall. Wie wappnen sie sich?“. In: Frankfurter Allgemeine, 5. September 2022.
Hinweis der Autorin: Diesen sehr lesenswerten Beitrag des Vorstandsvorsitzenden von Klöckner & Co und der Professorin an der Universität Paderborn habe ich, wie so etliche andere außerordentlich lesenswerte, Beiträge dem Mediendienst Blendle.com zu verdanken. Blendle ist sozusagen der Gatekeeper für interessante Beiträge aus den Medien, sodass der Abonnent von Blendle (in meinem Fall die Abonnentin) nicht jedes Mal gleich die gesamte Zeitung oder das gesamte Magazin erwerben muss (was schier unmöglich wäre), sondern via Blendle eine wirklich gute Auswahl vorfindet.

(2): ebd. Kerkhoff, Sureth-Sloane

(3) : Auf die Bedeutung von Hoffen, Optimismus und Zuversicht und deren feine Unterschiede kommen wir in Teil 3 dieser kleinen Reihe.

(4): In der Printausgabe ist dieses Essay mit „Der Innehalt“ betitelt, Online unterliegt er der Bezahlschranke mit dem Titel „Die Kunst des Wartens“.

(5): ebd.: Tagesspiegel-Autorin Dr. Kerstin Decker zitiert in ihrem Essay „Der Innehalt“ „/ Die Kunst des Wartens“ den Soziologen Rainer Paris. Hier noch ein Buchtipp, der in diesem Essay genannt wird: Reuter, Timo: Warten. Eine verlernte Kunst

(6): Entnommen dem Essay von Ariane Bemmer „Bitte tun Sie jetzt nichts“ (Printtitel Tagesspiegel vom 3. Juli 2022), Online mit Bezahlschranke, Online-Titel: „Wie geht eigentlich Nichtstun?“

(7): ebd.: Im Essay zitiert Ariane Bemmer den koreanischen Philosophen Byung-Chul Han, dass erst mit dem Ruhetag das Werk vollendet sei, und sein aktuelles Buch: „Vita Contemplativa„.

Dreiteilige Reihe Krisenphänomene

Teil 1: Krisen und Ambivalenz

Katharina Daniels: Kommunikationsberaterin und Publizistin

Über die Autorin
Die Autorin ist Inhaberin von „Daniels Kommunikation“ (Sprache macht den Menschen aus) und Mitgründerin der Verbundinitiative „authentisch-anders: Für eine wache Kultur in Unternehmen und Gesellschaft„. Unter dem Leitgedanken der kulturellen Innovation begleiten die authentisch-anders Mentoren, mit jeweils individueller Expertise und Perspektive, Unternehmen als Sparringspartner, Inspirations- und Feedbackgeber. Damit innovationsbereite Unternehmen mit einer zukunftsweisenden Kultur Impulse in die Gesellschaft senden. Mit einer Kultur, die Mitarbeiterautonomie, Selbst-Verantwortung und Sinnhaftigkeit verbindet. In der CSR, New Work und agiles Management mehr als Worthülsen sind. So setzen Sie als Unternehmen Akzente authentisch anders – bei Ihren Stakeholdern und in Ihr gesellschaftliches Umfeld hinein!