Zumindest gefühlt überstürzen sich Krisen derzeit in einer schier nicht mehr zu bewältigenden Dynamik. Und zugleich in einer Vielschichtigkeit, die zu begreifen, mehr noch sie auszuhalten fast unmöglich scheint. Die Vielschichtigkeit zeigt sich in der Widersprüchlichkeit der jeweiligen Krisensituationen: Das eine ist richtig und das andere auch, oder umgekehrt, das eine ist nicht richtig, das andere ebenfalls nicht. Was tun? Im Dreiteiler zu Krisenphänomen schauen wir uns in diesem Teil 1 den Zwiespalt, den inhärenten Widerspruch, kurz die Ambivalenz genauer an.

Ambivalenz: Eine Frage der Moral?

Im Frühsommer dieses Jahres brachte der Wirtschaftsminister und Kommunikationsmeister Robert Habeck in einem Video zum Ukrainekrieg den inneren Zwiespalt, die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Werte, die Ambivalenz, trefflich auf den Punkt: Waffenlieferungen zur Unterstützung des überfallenen Staates stehen für den Kampf um ein freiheitliches Zusammenleben, um freie Rede, Wahlen etc. – einerseits; zugleich verlängert andererseits beidseitige Hochrüstung den Krieg und kostet Menschenleben, auf beiden Seiten. Welcher Wert leitet unser Handeln? Was gewichten wir moralisch als höherwertig? Gibt es einen Ausweg, dem Wertedilemma zu entkommen?

Lagerbildung als Feind der Ambivalenz

Ebenfalls im Kontext Ukraine erhebt ein weiterer Wertekonflikt sein Haupt. In der Abwehr der Invasion mutiert „der Russe“ als solcher zum Feind, werden als Solidaritätsbekundung in Deutschland Auftritte russischer Künstler abgesagt. Seitens des ukrainischen Kultusministeriums wird auch klassische Literatur, die nur irgendwie unter dem Verdacht des Russischen steht, in Feindesecke gestellt. Etwa die Werke des in Kiew geborenen Schriftstellers Michail Bulgakow. Nichts kann Bulgakow (1891 – 1940) weniger gerecht werden, der mit seinem wohl bekanntesten Werk „Der Meister und Margarita“ eine scharfzüngig-allegorische Abrechnung mit Stalins Schreckensherrschaft vollzog. Und würde nicht im Gegenteil eine Stärkung russischen Freigeists, russischer Intelligenz und russischen Künstlertums (1), gerade durch ostentatives Miteinander seitens der ukrainischen Kollegen, der Unterhöhlung des „Spalte und herrsche“-Prinzips dienen, das Putin und Gefolge exerzieren?

Die Ambivalenz humanitärer Unterstützung

Bevor wir auf die vermeintliche Auflösung des Wertewiderspruchs, genauer vielleicht noch auf die Frage kommen, ob die Auflösung der Ambivalenz als solche erstrebenswert ist (und ein in dieser Frage aufregendes Denkexperiment des Philosophen Slavoj Žižek) – zuvor also betrachten wir innere Widersprüche auch in anderen Krisenszenarien. Afghanistan etwa, zwischenzeitlich über dem Ukrainekrieg fast in Vergessenheit geraten, jetzt rund ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban wieder ins Bewusstsein gerückt.  Sämtliche Versprechen der „nach religiösem Wissen Suchenden“ (so die Bedeutung des aus dem Arabischen stammenden Begriffs Taliban), etwa Frauen und Mädchen die zwischenzeitlich errungenen Rechte zu belassen (2), entpuppen sich als Lüge. Zugleich gerät das Land immer tiefer in eine existentielle Krise der Hungersnot. Was soll der Westen tun? Gebergelder wieder fließen lassen und damit auch das dortige Regime stärken? Wie auch Szenarien aussehen: etwa der Versuch, zivilgesellschaftlich und entwicklungspolitisch Kontakte ins Land zu aktivieren, auf eine kompetente Taliban-Besetzung politischer Schlüsselpositionen hinzuwirken, bis hin zur Stärkung interner Widerstandskraft, etwa von Frauenrechtlerinnen – das „Dazwischen“, das Spannungsfeld zwischen wichtiger Unterstützung und Vermeidung der Stärkung des Taliban-Regimes gilt es auszuhalten.

Ambivalenz von Umwelt und Zugehörigkeit

Betrachten wir ein drittes Szenario: Kohleabbau und -verbrennung schaden unserer Umwelt, zerstören sie, das ist unbestritten. Abgesehen von den jüngsten, durch drohende Energieknappheit möglichen zwischenzeitlichen Wiederbelebungen der Fördergruben, sind Ambivalenzen durch das Beenden der Kohleförderung dennoch unleugbar. Sozialer als auch regionalwirtschaftlicher Natur. Im psychosozialen Kontext gerieten in den Jahren 2018 / 2019, als die Bewegung „Fridays for Future“ die öffentliche Aufmerksamkeit eroberte, die Menschen und ihre innere Verbindung zu „ihrem“ Revier aus dem Blick. In der Lausitz etwa stand Kohlebergbau für den Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte, die Menschen empfanden Stolz auf das, was sie aufgebaut hatten. Nun geriet ihr Lebenswerk in einen grundlegenden Misskredit, und damit auch das Selbst-Empfinden: „War es denn alles nichts wert, was wir jahrzehntelang erarbeitet und für gut befunden haben?“.

Ambivalenz von Braunkohleausstieg und Wasserversorgung  

Aktuell brandet, im Sinne des Wortes, das nächste Dilemma auf (3). Sogenannte Grundwasserabsenkungstrichter sorgten für die Trockenlegung des Gesteins rund um die Kohleflöze, Grundbedingung für den Kohleabbau. Die hierfür installierten Filterbrunnen beförderten zugleich rund 350 Millionen Kubikmeter Grundwasser an die Oberfläche und damit in das oberirdische Einzugsgebiet von Spree, Neiße und Schwarzer Elster: Wasserzufuhr für alle nahegelegenen Gebiete und die „durstige“ Hauptstadt Berlin. Mit dem Ausstieg aus der Braunkohle wird dieses Wasserangebot drastisch sinken. Ein vom Bundesumweltamt eingesetztes Konsortium untersucht derzeit die Auswirkungen des Kohleausstiegs auf die Flüsse der Region, Ergebnisse werden frühestens Ende 2022, eher im Verlauf 2023 erwartet.

Der existentielle Schmerz von Ambivalenz und Antinomie

Sind zwei gegenläufige Dinge zugleich wahr (Antinomien), erleben wir das als Widerspruch in sich. Und wohl kaum etwas ist dem Menschen unangenehmer, ja schmerzlicher, verbunden mit dem Wunsch und dem Bemühen, den Widerspruch aufzulösen. Im Interview mit dem Philosophen und Psychoanalytiker Slavoj Žižek im Philosophiemagazin „Hohe Luft“ (4) adressieren die Interviewer das Phänomen als „ontologische Grundspannung“ (5).  Hindert uns diese, allem Existenten innewohnende Spannung, der inhärente Widerspruch am Erreichen eines idealen Zustands? Nein, sagt der Philosoph Žižek: „Das, was uns als Widerspruch erscheint, …, ist genau das, wo wir das Reale an sich berühren“. Nicht die höhere, die vermeintliche versöhnende Synthese zweier Antipoden sei der Idealzustand, sondern die Versöhnung des Menschen mit der Antinomie, dem Widerspruch als Bestandteil der Wirklichkeit.

Die Akzeptanz von Ambivalenz und die „ideale“ Wirklichkeit

Vielleicht nötigt uns die Vielfalt der uns derzeit ereilenden Krisen mitsamt ihren inneren Widersprüchen, die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Werte auszuhalten, uns mit Ambivalenz und Antinomie auszusöhnen, sie als Wirklichkeit, als Realität zu akzeptieren.

  • Seien es Krieg und der von Habeck adressierte Wertekonflikt zwischen kollektiver Freiheit in Gestalt demokratischer Rechte einerseits und dem individuellen Sterben von Soldaten und Zivilisten andererseits,
  • seien es die mit Klima und Erderwärmung einhergehenden Interessenspole, etwa Landschaftszersiedlung durch Windradparks und sogenannte alternative Energiegewinnung aus Sonne, Wind, Biomasse und Erdwärme,
  • seien es Energieknappheit mit dem möglichen zwischenzeitlichen Wiederhochfahren von Förderbergwerken oder Atommeilern, um unseren Verbrauch zu decken,
  • sei es, nicht zu vergessen, die Pandemie und die hier virulenten Ambivalenzen zwischen den sogenannten Teams Vorsicht und Sorglosigkeit.

Jegliches Leugnen der ontologischen Widersprüchlichkeit, also der Versuch, eine „bessere“ Realität im Verständnis einer vermeintlich idealen Eindeutigkeit zu schaffen, treibt uns nur tiefer in den Konflikt: „Man erreicht niemals einen idealen Zustand, der der Realität entgegengesetzt ist“, sagt Žižek.

Dreiteiler Krisenphänomene

Teil 2: Krisen und der Innehalt

in Folge 3, dem Abschluss dieses Dreiteilers, steht „Krise und Zuversicht“ im Fokus.

Ergänzungen / Vertiefendes

(1): „Die Bomben des Hasses sprengen das Land in Stücke“, ist der Titel des Beitrags des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow im SPIEGEL Nr. 22 vom 28.5.2022, in dem der Autor u.a. schreibt: „Kultur ist in Russland immer gegen den Staat, oppositionell, trotzig. Manchmal mit dem Geld des Staates, aber trotzdem nicht in seinem Namen und nicht für ihn. Staat und Politik in Russland töten und spalten… In der Kultur geht es immer um da, was den Staat nicht interessiert, was für ihn nicht wichtig ist. Es geht um die Barmherzigkeit gegenüber den Gefallenen. Es geht um Mitgefühl, es geht um die Abgründe und Höhen des menschlichen Geistes …“.

(2): Im Kontext Afghanistan und dem dort nun wieder herrschenden Zwang zur Burka, hier ein sehr interessanter Beitrag einer aus Afghanistan gebürtigen Journalistin und Ethnologin, Shikina Barbori, die die Symbolkraft dieses Kleidungsstücks kritisch analysiert: „Über Ihren Köpfen – wie der Westen die Burka instrumentalisiert

(3): Der Beitrag „Am Tropf der Lausitz“ (mit Bezahlschranke), aus dem die o. g. Informationen übernommen sind, erläutert dieses derzeit wohl noch wenig präsente Problem.

(4): Philosophiezeitschrift HOHE LUFT, Für alle, die Lust am Denken haben; Schwerpunkt Zukunft / was gibt uns Zuversicht? Ausgabe 5 / 2022, Interview mit Slavoj Žižek: „Mein ganzes Bestreben ist es, eine Art Nullpunkt zu finden, in dem unsere Erfahrung kollabiert“.

(5): Ontologie: Die Lehre vom Sein, vom Seienden, hier die Definition, plus: Weitere Begriffsklärungen im Kosmos der Gegensätze

Beitragsbild: Bild von John Hain auf Pixabay

Katharina Daniels: Kommunikationsberaterin und Publizistin

Über die Autorin
Die Autorin ist Inhaberin von „Daniels Kommunikation“ (Sprache macht den Menschen aus) und Mitgründerin der Verbundinitiative „authentisch-anders: Für eine wache Kultur in Unternehmen und Gesellschaft„. Unter dem Leitgedanken der kulturellen Innovation begleiten die authentisch-anders Mentoren, mit jeweils individueller Expertise und Perspektive, Unternehmen als Sparringspartner, Inspirations- und Feedbackgeber. Damit innovationsbereite Unternehmen mit einer zukunftsweisenden Kultur Impulse in die Gesellschaft senden. Mit einer Kultur, die Mitarbeiterautonomie, Selbst-Verantwortung und Sinnhaftigkeit verbindet. In der CSR, New Work und agiles Management mehr als Worthülsen sind. So setzen Sie als Unternehmen Akzente authentisch anders – bei Ihren Stakeholdern und in Ihr gesellschaftliches Umfeld hinein!