Digitalisierung, heute zunehmend im umfassenderen Verständnis der digitalen Transformation, ist weit mehr als eine Weiterentwicklung der Industrie. Wie es der, noch dominante, Begriff der Industrie 4.0 suggeriert. Die digitale Umwandlung unserer Welt fordert uns eine Vieldeutigkeitstoleranz ab, die im Gegensatz zu einer auf Binärlogik beruhenden Technologie zu stehen scheint. Gerade aber die der Binärlogik innewohnenden Optionen zeigen die Deutungsspannen auf. In Teil 2 geht es um Chancen und Risiken einer Entwicklung, die wir in Gang gesetzt haben – und die unumkehrbar ist.

Fortschritt fordert seinen Preis

Vom Ferienflug auf die Malediven bis zur Reise-App auf dem Smartphone: Die Vorteile elektronisch-digitaler Mobilität – der Kombination aus elektronischem Fortschritt und wachsender Mobilität in multiplen Lebensbereichen – nehmen wir, bzw. immer größere Teile der Gesellschaft, gern wahr. Was aber bedeutet die Spirale aus technischer Entwicklung, wachsenden Nutzeransprüchen und der, in immer noch exponentiell steigender Dynamik, fortschreitenden elektronischen Datenverarbeitung (Digitalisierung) für den „Faktor Mensch“ in der Gesellschaft, im privaten Kontext als auch in Wirtschaftsbezügen und Unternehmensgestaltung? Eine Entwicklung, deren Vorteile wir heute in den vielfältigsten Facetten zu schätzen wissen, fordert ihren Preis.

Evoziert Digitalisierung eine Spaltung der Gesellschaft?

Aus individueller Perspektive zerfällt eine Gesellschaft in glühende Fans digitaler Formate auf der einen und entschiedene Gegner auf der anderen Seite: Bevor wir uns die Auswirkungen nichtreflektierter Fortschrittsgläubigkeit näher anschauen: Wie sieht es mit den Menschen aus, die mit der Veränderungsgeschwindigkeit nicht mehr mitkommen, die sich abgehängt fühlen? Wie so oft ältere Menschen, die bspw. schon mit einer Online-Reisebuchung hoffnungslos überfordert sind, geschweige denn sich vertiefende Infos zu Sehenswürdigkeiten via Barcode aufs Smartphone holen (IoT) Hier wird sich keine Versöhnung entgegengesetzter Interessenlagen anbahnen. Wer sich der, zunehmend alle Lebensbereiche durchdringenden, Digitalisierung verweigert (und keine Hilfe anderer erwarten kann), ist abgehängt.

Vier Spannungsfelder im Rahmen unaufhörlicher Optimierung 

Betrachten wir nun die Befürworter, an deren Nutzungsverhalten sich die Spannungsfelder fortschreitender (und nicht mehr umkehrbarer) digitaler Entwicklung deutlich zeigen.

Fall 1: Da gibt es beispielsweise den überzeugten Nutzer vollautomatisierter, vernetzter Haushalte, sog. Smarthome, mit bspw. nutzungsprogrammierter Heizungssteuerung. Ökologisch ist das durch die eingesparte Heizenergie auf den ersten Blick gewinnbringend, regelrecht eine Effizienzrevolution. Werden jedoch, weitergedacht, unzählige neue Gadgets fürs vernetzte Zuhause angeschafft, inkl. cleverem Kühlschrank, sind solche Smarthome-Systeme (IoT) im Energieverbrauch extrem ressourcenintensiv und zudem in Sachen Datenschutz unsicher.

Fall 2: Betrachten wir die Smartphone-Nachfrage. Laut Statistik ist die Anzahl der Verkäufe seit 2009 kontinuierlich gestiegen; von 5,1 Millionen 2007 auf 26,2 Millionen als vorerst Gipfel 2015 bis 23,6 Millionen 2018, also rund 25 Prozent der aktuellen Einwohnerzahl der gesamten Bundesrepublik allein 2018: Fraglos ist das Smartphone ein nützliches Tool, besonders wenn jemand viel unterwegs ist. Apps helfen bei rascher Orientierung, alle wichtigen Infos können von jedem Ort aus abgerufen werden. Dabei bleibt es aber nicht; das Smartphone scheint bei immer mehr Menschen zum Teil ihrer Persönlichkeit zu werden. Man kann heute von einer, in etlichen Studien nachgewiesenen, Smartphone-Sucht sprechen, unaufhörlich erreichbar und mobil zu sein – gekoppelt mit der Angst, ohne das Smartphone den Anschluss da draußen zu verlieren. Wobei zunehmend das analoge Miteinander ins Hintertreffen gerät.

Fall 3: Nehmen wir das Tragen von Fitnessarmbändern (sog. wearables), in der Werbung als gesundheitsbewusst proklamiert. Zumindest die Transparenz höchstpersönlicher Daten ist ein sehr kritischer Punkt: Wer gelangt in den Besitz dieser höchstpersönlichen Daten und kann diese nutzen? Zu werblichen Zwecken, aber auch kostenträgerseitig zur Einstufung eines Versicherten? In welchem Maße macht sich der moderne Mensch zum gläsernen Menschen? Eine Entwicklung, die Programme wie „Workplace Analytics“ unter dem Anspruch höherer Transparenz auch in Unternehmen befördern.

Fall 4: Das autonom fahrende Auto soll uns in nicht allzu ferner Zukunft zu den Orten unserer Kaufsehnsucht fahren, wie es Christoph Keese in seinem Buch eindringlich beschreibt. Schon während der Fahrt ploppen individualisierte Werbetafeln am Straßenrand auf mit genau den Produkten, die wir in ähnlicher Art und von identischen oder ähnlichen Marken in der Vergangenheit erworben oder zumindest im Netz angeklickt haben. Unser, mit allen relevanten Daten programmierter, Fahrdiener transportiert uns dann in die nächste Shopping-Mall, wo uns wiederum individualisierte Werbeplakate den Weg durchs „Einkaufsparadies“ weisen.

Mit Lust forschen: das Undenkbare denken

Wollen wir diese Welt, die uns (vermeintlich) die Wünsche von den von uns begangenen Datenpfaden abliest? Wo bliebt die, dem menschlichen Wesen als Gegensatz zur liebgewonnenen Gewohnheit ebenfalls innewohnende, Sehnsucht nach Überraschung, die uns inspirieren kann? Inspiration erwächst nicht aus dem Ewiggleichen, sondern aus dem Nicht-Gekannten, Unvermuteten.

Es sind dies Merkmale des Mensch-Seins, die Neugier, der Wissensdurst, die Forscherlust, das Undenkbare zu denken, die uns vom Lagerfeuer bis zur Weltraumforschung gebracht haben. Entdeckerdrang, Kreativität und Urteilskraft auch aus unbewusstem Wissen, der sogenannten Intuition oder auch dem sechsten Sinn, sind Fähigkeiten jenseits eingespeister Daten und deren Verarbeitung durch rechnergestützte Algorithmen, die heute im Wirtschaftskontext in etlichen Bereichen als leistungsfähiger als der Mensch gelten.

Bild von yeiferr auf Pixabay 

Aktuelle Publikation der Autorin: „Elektromobile Arbeitswelt: Agilität in Methoden und innerer Haltung“ im Kompendium „Systemwissen zur E-Mobilität“

Die Autorin ist Gründerin der Verbundinitiative authentisch anders, die sich der grundlegenden Frage stellt: Wie kann eine menschenwürdige Gesellschaft gelingen und welche Impulsfunktion kommt dabei Unternehmen und Organisationen zu?

Teil 1 der Reihe „Alles digital“: Neues Leben, Lernen, Arbeiten
Teil 3 der Reihe: Ist KI intelligent?
Teil 4 der Reihe: KI-Diener, Partner, Herrscher?